Märchen vom Königreich Humania

oder wie es sein könnte, wenn jeder seinen Typ lebt

Es war einmal ein Königspaar, das ein riesiges Königreich hatte mit tiefen Wäldern, fruchtbaren Ebenen, grünblauen Seen und kraftvollen Strömen. Dieses Reich hieß Humania.
Das Königspaar hatte vier Kinder, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

Manito, der älteste, war der Anführer. Er sagte seinen jüngeren Geschwistern immerzu, was sie zu tun hatten. Aber er selbst machte stets nur, was er wollte. Das verärgerte Eltern und Geschwister gleichermaßen, und es gab deswegen oft Ärger in der Königsfamilie.

Das zweitälteste Kind war Genora. Sie war ein fleißiges Mädchen und war unaufhörlich beschäftigt. Sie putzte das Tafelsilber und die Schuhe, und wenn sie fertig war, baute sie mit großer Hingabe aus Spielsteinen Häuser. Suchte der König wieder einmal seine Lieblingsschuhe, dann wusste er, Genora machte sie gerade sauber. Der König freute sich über den Eifer seiner Tochter, aber dennoch war er oft zornig auf sie: „ Sie könnte mich doch fragen, ob ich meine Schuhe brauche. Immer dann, wenn ich sie anziehen will, sind sie weg!“

Das dritte Kind war wieder ein Junge. Er hieß Projito. Er hatte einen ausgesuchten Geschmack und kleidete sich sehr edel. Er wusste, dass er etwas Besonderes war, jedoch zweifelte er daran, dass die anderen das auch an ihm sehen. Genora gab ihm häufig den Putzlappen in die Hand, schließlich war er ihr kleiner Bruder und sie meinte, ihm Arbeiten anordnen zu können. Als Projito gerade die ersten Sätze sprechen konnte, gehorchte er seiner Schwester noch. Doch bald ließ er sie die Arbeiten alleine verrichten. Es war ihm einfach zu anstrengend. Er brauchte auch immer so viele Erholungspausen, was wiederum Genora verärgerte. Projito träumte von einer herrlichen Zukunft, in der er der Chef sein konnte. Tief in seinem Innersten wusste er, dass das das Richtige für ihn sein würde.

Schließlich gab es noch ein jüngstes Kind. Es war ein ganz und gar zartes Mädchen namens Refora. Sie weinte stets, wenn die anderen sich stritten. Meist spürte sie schon vorher, wenn es zu einer Auseinandersetzung kam. Dann verließ sie rechtzeitig den Raum. Denn sie litt zu sehr unter der schlechten Stimmung. Die Eltern wussten, dass dieses, ihr letztes Kind, ein sehr außergewöhnliches Wesen war.

Die Königskinder wuchsen heran. Die drei älteren Kinder zankten sich oft, Refora, die Jüngste, zog sich dann zurück.
Die vier bekamen die besten Lehrer des Landes. Diese sollten das wahre Wesen der Kinder hervorlocken, so dass sie zu zufriedenen und glücklichen Menschen heranreifen und somit den Fortbestand von Humania sichern konnten. Die Ausbildungszeit dauerte sieben Jahre. Der Streit unter den Kindern nahm mit jedem Jahr ab, sehr zur Freude der Jüngsten und des Königspaares.

Manito, der Älteste wollte zwar immer noch den Ton angeben, aber er lernte, die restliche Familie über seine Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Und mit der Zeit wurde er von den anderen immer mehr geschätzt.

Genora, die Zweitälteste, arbeitete nur dann, wenn sie wirklich Lust dazu hatte und wenn sie von den anderen gefragt wurde. Immer häufiger hörte sie sich m-hm oder n-n sagen. Hörte sie ihr eigenes m-hm, wusste sie: „Jetzt ist es richtig, wenn ich in Aktion trete!“ Bei einem n-n ließ sie es bleiben. Sie freute sich, denn sie hatte nicht mehr so viel zu tun wie früher. Außerdem wussten auch alle anderen ihre Mühe immer mehr zu schätzen und freuten sich, wie viel sie für alle tat.

Projito verhielt sich die erste Zeit sehr zurückhaltend. Seine Gabe, das Organisieren, wurde sehr bald von den anderen entdeckt. Immer wenn er aufgefordert wurde, den Monatsspeiseplan oder den neuen Dienstplan zu erstellen, waren alle begeistert, wie mühelos und ansprechend er dies tat. So erntete Projito sehr viel Lob und wurde immer glücklicher dabei.

Refora brauchte immer noch ihre Phasen des Rückzugs, aber sie spürte als erste, wenn das Essen verdorben war oder wenn einer der Bediensteten ein Herzeleid hatte. Sie unterrichtete die anderen darüber, die alles unternahmen, dies Elend wieder aus der Welt zu schaffen. Deswegen war Refora bei allen sehr beliebt.

Manito nahm sich immer mehr zurück. Er machte das, was er am besten konnte, nämlich Jagen, und kehrte stets mit Beute ins elterliche Schloss zurück. Es war ihm nicht mehr wichtig, anderen zu befehlen. Denn auch er sah bald ein, dass Projito viel besser wusste, welche Fähigkeiten die anderen besaßen und für welche Tätigkeiten sie am besten einzusetzen waren.

Als das Königspaar schon sehr alt war, bekam Projito die Königskrone, zu seiner obersten Beraterin ernannten sie Refora, die mit ihrer feinfühligen Ader sofort spürte, wo sich im Reich eine schwierige Lage anbahnte.
Manito ging weiterhin erfolgreich zur Jagd und Genora ging ganz in den Aufgaben auf, die ihr Bruder Projito ihr vorschlug: Sie gestaltete einen neuen Park für das Volk und baute Schulen für die Kinder.
Alle vier Kinder waren glücklich und zufrieden, weil jeder das machte, was er am besten konnte. Sie bekamen von den Eltern alle gleich viele Goldtaler als Erbe, da jeder einen wichtigen Beitrag zum Fortbestand des Königreichs Humania leistete.

Das größte Anliegen der vier Königskinder war die Erziehung der Nachkommenschaft. Es war die Aufgabe aller Lehrer im Reich, jedes Kind dahingehend zu unterweisen, dass es lernt, sich so anzunehmen, wie es ist und das zu tun, was es am besten kann. So gab es keine Dümmeren und keine Klügeren, aber auch keine Besseren und keine Schlechteren. Jeder konnte der sein, der er war.
Bald gab es keine Bürgerkriege und Aufstände mehr im Reich Humania. Jeder war glücklich nach seiner Facon und ließ den anderen das sein, was er war. Als Folge davon wurde das Wort „Stress“ aus den Wörterbüchern gestrichen, und man schaute nur noch in zufriedene Gesichter, während in anderen Königreichen Kriege tobten und Mord und Totschlag an der Tagesordnung waren. Das Königreich Humania existierte als einziges bis ans Ende der Zeit.